Rezension: Fabian Reicher / Anja Melzer – Die Wütenden: Warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen

Fabian Reicher hat in Wien zuerst einige Jahre als Streetworker mit Jugendlichen gearbeitet, diese Erfahrungen fließen in seine Tätigkeit bei der Beratungsstelle Extremismus im Bereich der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit ein. Mit Unterstützung der Journalistin und Gerichtsreporterin Anja Melzer beschreibt er im Buch anhand fünf ausgewählter Biografien radikalisierter Jugendlicher, wie ein Ausstieg unterstützt werden kann. Reicher hat mehrere Projekte und Initiativen mitbegründet, so auch ein Online-Streetworkprojekt. Der Sozialarbeiter gibt sein Wissen seit Jahren im Rahmen von Lehrtätigkeiten und Workshops weiter. Das Buch berichtet über persönliche Erfahrungen mit antimuslimischem Terror in Österreich und liefert Erklärungen, warum extremistische Ideologien besonders für marginalisierte Jugendliche eine Anziehungskraft ausüben.

Die Autor:innen merken an, dass der Diskurs über den Themenkomplex „Islam und Terror“ von zahlreichen „Terrorexpert:innen“ und „Islamkritiker:innen“ dominiert wird, die weit weg von den realen Problemen sind, mit denen Jugendverantwortliche in der praktischen Arbeit konfrontiert werden. Bisherige Präventionsansätze werden kritisch hinterfragt, immer mehr Expert:innen aus der Praxis fordern ein Umdenken. Reicher führt aus, dass im Radikalisierungsprozess vor allem die Ebene der Emotionen entscheidend sei, daher seien Deradikalisierungsprogramme, die auf der Ebene des Verstandes und der Argumentation ansetzen, zum Scheitern verurteilt. Eine pädagogisch erfolgreiche Intervention bedeutet demnach nicht automatisch eine Diskussion zu gewinnen. Langfristig könne eine Deradikalisierung nur gelingen, wenn die Themen dahinter bearbeitet werden würden.

Reicher und sein Team waren zu Beginn ihrer Streetworktätigkeit mit den Aussagen und Provokationen dieser bestimmten Zielgruppe massiv überfordert. Sie haben sich daher selbst beratende Unterstützung von Expert:innen geholt, die sich bereits länger mit dem Phänomen Radikalisierung beschäftigen. Dabei sind hauptsächlich Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands und der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger zu nennen. Deren Ansätze erkennt man auch in der Umsetzung. Die Beratungsstelle Extremismus hat in der Ausstiegs- und Deradikalisierungsarbeit daraus ein eigenes Konzept gestrickt, den Wiener Ansatz bzw. die Pädagogik der Wütenden, wie es im Buch genannt wird.

Radikalisierung ist immer ein individueller Prozess, es sind immer andere Erfahrungen und Bedürfnisse, die dahinterstehen. Die Autor:innen betonen, dass Beziehungsarbeit die Basis in der Arbeit mit den betroffenen Menschen bildet, Jugendarbeiter:innen müssen sich für die Themen der Jugendlichen interessieren und Vertrauen aufbauen. Das Weltbild von Jugendlichen ist kein geschlossenes, es entsteht in der Adoleszenz und entwickelt sich im Erwachsenenalter weiter. Zwischen 13 und 19 Jahren erfolgt unsere politische Sozialisation. Wichtig in der Deradikalisierungsarbeit, so die Autor:innen, sei es, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen, einen „Common Ground“ zu finden. Ziel ist ein „Window of Opportunity“, ein Zeitpunkt, in dem eine Veränderung möglich ist. Denn: Deradikalisierung beginnt mit Zweifeln.

Eine wichtige Erkenntnis wird im langfristigen Ziel einer gelungenen Extremismusprävention beschrieben: Es ist die Lust am Ungehorsam und am eigenständigen Denken. Jugendliche sollen Positionen, Vorstellungen und Erzählungen kritisch hinterfragen und sich ihre eigene Meinung bilden. Diese Entwicklung einer inneren Autonomie immunisiert gegen die Anziehungskraft extremistischer Gruppen. Daher ist es auch notwendig Provokationen zuzulassen, allerdings in einem geschützten Rahmen.

Viele der beschriebenen Empfehlungen sind bereits bekannt, doch leider noch nicht umgesetzt. Einige pädagogische Standardfloskeln werden mittlerweile seit Jahrzehnten defizitär verwendet, sind aber offensichtlich immer noch notwendig. So wird auch hier der Spruch bemüht, wie wichtig es ist mit Jugendlichen zu reden, anstatt nur über sie. Aber das kann nicht oft genug betont werden.

Man kann den Prozess, durch den Jugendliche zu Extremist:innen werden nicht umdrehen, Jugendliche lassen sich von außen nicht deradikalisieren oder „reparieren“. Reicher bringt diese Erkenntnis in einer ehrlichen Aussage gut auf den Punkt: „Ich habe sie da nicht „rausgeholt“, das geht auch gar nicht. Sie können sich nur selbst „rausholen“ und ich durfte sie auf ihrem Weg begleiten.“

Wir stehen in dieser herausfordernden Arbeit leider immer noch am Anfang, eine träge Politik und beratungsresistente Entscheidungsträger:innen sorgen für ständige Rückschritte. Dieses Buch ist ein wichtiger Schritt in Richtung ganzheitliche Konzepte und langfristige Lösungen.

Das Fazit der Autor:innen gibt Hoffnung: Man kann alle erreichen, man muss nur die richtigen Fragen stellen und die besseren Geschichten erzählen. Mit einer zugewandten pädagogischen Haltung und Interventionen auf Augenhöhe kann ein Ausstieg gelingen.