Rezension: Erwin Ringel – Die österreichische Seele

Erwin Ringel, der charismatische österreichische Psychotherapeut und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, hätte vor kurzem seinen 100. Geburtstag gefeiert. Bereits 1948 gründete er das weltweit erste Suizidpräventionszentrum in Wien und beschrieb 1953 das präsuizidale Syndrom, welches als Meilenstein in der Suizidforschung gilt.

Erwin Ringel hat im Lauf seines langen Lebens etwa 600 Arbeiten geschrieben, darunter 20 Bücher. Für seine umfassende Arbeit hat er zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten.

„Die österreichische Seele“ ist ein Klassiker, das Buch ist eine scharfsinnige, präzise, schonungslose und doch liebevolle Analyse der österreichischen Befindlichkeit. Es beinhaltet zehn als Reden formulierte Abschnitte über große Themen wie Politik, Kunst, Medizin und Religion, die bei ihrem Erscheinen 1984 heftige Kontroversen auslösten. Ringel wurde als Nestbeschmutzer beschimpft, manche fühlten sich angegriffen, viele in ihrem tiefsten Inneren verstanden.

Das Buch profitiert von der Lebendigkeit der Sprache Ringels. Auffällig ist, dass er sehr oft viele andere SchriftstellerInnen, und KünstlerInnen zitiert und deren Aussagen in den jeweils passenden Kontext seiner Ausführungen stellt. Generell schreiben viele BuchautorInnen ab, ohne das Original zu nennen. Ringel zitiert etwa den Erziehungswissenschaftler Frederick Mayer: „konventionelle Erziehung ist eine Einladung zur Depression.“ Der auch heute noch sehr populäre Familientherapeut Jesper Juul baut einige seiner Bücher auf diese These auf, nur dass Ringel in seinem Buch die Quelle für diese Aussage angibt.

Der 1994 verstorbene Autor spricht von einer Verdrängungsgesellschaft und dass wir nirgends gelernt hätten mit unseren Gefühlen zurecht zu kommen. Folgend bezeichnet Ringel Österreich als Brutstätte der Neurose und dass die Psychotherapie hier erfunden werden musste. Verdrängung, Ängste und Zwänge würden ein ganzes Volk beherrschen. Inzwischen ist tatsächlich das meiste an die Oberfläche gekommen, was Ringel vor vielen Jahrzehnten angeprangert hat.

Ringel schreibt den ÖsterreicherInnen zu, dass sie eine angeborene Bereitschaft zu devotem Dienen und zu vorauseilendem Gehorsam hätten. Damit erklärt der überzeugte Antifaschist auch in deutlichen Worten die Schuld Österreichs, am Ausbreiten des Nationalsozialismus über ganz Europa.

Ringel hatte ein ausgeprägtes Verständnis für Jugendliche, was in vielen Äußerungen klar wird. Hier folgen auszugsweise vier beispielhafte Zitate aus dem Buch, die keine weitere Erklärung benötigen:

„Das ist das Wunderbare an dieser Jugend in meinen Augen, dass sie mit dieser Welt, die wir ihr präsentieren, nicht zufrieden ist; und dass sie trotz alledem nicht aufgibt, sich in der großen Mehrzahl nicht enttäuscht zurückzieht, nicht „aussteigt“, sondern versucht, sich den Problemen zu stellen.“

„Die Kindheit ist keine Vorbereitungszeit, die man möglichst rasch durchlaufen soll, sie besitzt einen Eigenwert.“

„Unsere Erziehung vermittelt oft einseitig Wissen und Bildung, während die Menschenbildung, die Entwicklung der Persönlichkeit, überhaupt nicht Berücksichtigung findet.“

„Echte Autorität ist nicht Gewaltausübung und Machtanspruch, sondern Vorbild und Beispiel.“

Diese zeitlose Pflichtlektüre ist auch heute noch aktuell wie zur Zeit seiner Erscheinung vor 35 Jahren.