Rezension: Klaus Farin – Über die Jugend und andere Krankheiten – Essays und Reden 1994 – 2018

Der deutsche Experte für jugendliche Lebenswelten darf bei unseren Literaturempfehlungen nicht fehlen. Klaus Farin beschäftigt sich bereits seit über 40 Jahren hauptberuflich mit dem Thema Jugendkulturen. Der bekennende Berufsjugendliche kam 1980 nach Berlin, wo er bis heute geblieben ist. Er ist unter anderem als Buchautor, Journalist und Verleger tätig, zu jugendspezifischen Themen ist er ein gefragter Referent. Farin publiziert seit Ende der 1980er Bücher, bis heute sind 30 Werke von ihm erschienen. Darunter finden sich zahlreiche Klassiker, die zu bedeutenden Werken für Jugendverantwortliche wurden.

1997 hat Farin in Berlin das Archiv der Jugendkulturen gegründet, dessen Ziel die Sammlung, Erforschung und Vermittlung von Kenntnissen über jugendliche Kulturen und Lebenswelten ist.
www.jugendkulturen.de

Aus dem Archiv heraus hat sich ein eigener Buchverlag gegründet sich nun Hirnkost Verlag nennt, mit über hundert Büchern im Programm.
www.hirnkost.de

2011 hat Farin die Stiftung Respekt! initiiert, der er seit der Gründung vorsitzt. Diese Stiftung fördert jugendkulturelle Vielfalt und Toleranz, Forschung und Bildung.
www.respekt-stiftung.de

Seit den 1980er Jahren ist Klaus Farin freiberuflich als politischer Bildner tätig und unternimmt regelmäßig Vortragsreisen im deutschsprachigen Raum, kommt in diesem Rahmen auch regelmäßig nach Graz. Wenn es dafür wieder eine Gelegenheit gibt, sollte man sich seine kompetenten Ausführungen und seine unkonventionelle Art nicht entgehen lassen.

Farin revolutionierte die deutsche Jugendsozialforschung, in dem er Jugendliche als Expert:innen ihrer eigenen Lebenswelten zu Wort kommen ließ. Er setzt sich in seiner Arbeit für eine Aufwertung des oft schlechten Images diverser Subkulturen ein und ist eine Art Sprachrohr für oft missverstandene Bewegungen, wie beispielsweise Skinheads, Hooligans oder Gothics. Er hat viel zum Verständnis diverser Subkulturen beigetragen und versucht Vorurteile aufzubrechen.

Der wohl dienstälteste Jugendexperte im deutschsprachigen Raum ist ein Fürsprecher für jugendliche Provokationen und reagiert regelmäßig mit kalmierenden Fakten, wenn uns wieder mal wer einreden will, wie schlecht die „heutige Jugend“ sei. Auch das hier vorgestellte Buch ist ein Plädoyer für die Notwendigkeit von unangepasstem Verhalten bei Jugendlichen. Der Autor erläutert, dass nicht jede Provokation eine Ideologie im Hintergrund hat.

Farin zeigt auf, dass es „die Jugend“ nicht gibt und dass wir uns von der Vorstellung lösen müssen, es mit einer homogenen Gruppe zu tun zu haben. Die Welt ist nicht mehr so schön geordnet, wie sie älteren Generationen zumindest im Rückblick auf ihre Jugend einmal schien. Tausende von Subkulturen, Szenen, Lebensstilen, Moden und Hypes bevölkern inzwischen diesen Planeten. Noch bis in die 1960er Jahre hinein sprachen Jugendforscher:innen gerne von „der Jugendkultur“ im Singular – als gäbe es da nur eine einzige, die gesamte Generation der Jungen einschließende Lebenswelt. Der Großteil der damaligen deutschen Jugendstudien hatte laut Farin einen stigmatisierenden Zugang. Jugendliche galten fast automatisch als Sicherheitsrisiko und waren unter Extremismusverdacht. Der Autor prangert an, dass Jugendliche zu oft als Sündenböcke für das Fehlverhalten der Erwachsenengesellschaft herhalten müssen. Als Beispiel nennt er Skinheads als Hauptverantwortliche für die rassistische Welle der 1990er, an der eigentlich eine fehlgeleitete Politik Schuld hatte. Auch heute noch finden sich regelmäßig Überbleibsel dieser jugendfeindlichen Einstellung in breiten Teilen der Gesellschaft. Farin fasst seine Kritik dazu in deutliche Worte: „Im Mittelpunkt stehen oft nicht die Probleme, die Jugendliche haben, sondern die, die sie machen.“

Farin ist ein kritischer Geist, der mit seinen direkten Aussagen oftmals polarisiert. Er selbst spricht davon, bewusst verstören und irritieren zu wollen, dies sei notwendig, um die beruhigende Eindeutigkeit aufzugeben. Die Wirklichkeit sei selten so eindeutig, wie es Denkfaule oder Fanatiker:innen gerne wünschen. Farin beklagt, dass allgemein zuwenig Medienkompetenz und Urteilsvermögen vorhanden sind und verurteilt die Tatsache, dass aus Bequemlichkeit simpel gestrickten Vorurteilen nachgeeifert wird.

Kritisiert wurde der Autor vor allem wegen seiner Bücher über „die Böhsen Onkelz“ und über „Frei.Wild“. Von beiden zu Recht umstrittenen Bands muss man kein Fan sein, aber die differenzierte Sichtweise, selbst über sehr kontroversielle Themen, Szenen und Bands ist lesenswert. Farin ortet einen Widerwillen, sich ernsthaft mit Themen wie Rechtsextremismus auseinanderzusetzen. Dadurch entstehen unüberlegte und kurzsichtige Maßnahmen, wie Verbote oder Zensur, die lediglich ein Zeichen von Hilfslosigkeit und Ohnmachtserklärung seien. Farin bezeichnet „Engagement gegen Rechts“ als nicht immer pauschal gut, sondern man müsse die Methoden und Ziele einzelner Projekte hinterfragen. Er kritisiert, dass „Engagement gegen Rechts“ oft zu einem Geschäft geworden ist, bei dem es häufig dazu kommt, dass sich wenig kompetente Organisationen finanziell sanieren. Farin nennt mehrere Beispiele in denen Träger der politischen Bildung oder auch große Wohlfartsverbände von Fördergeldern profitiert haben und wo es um die Selbsterhaltung von aufgeblähten Strukturen geht.

Farin weist darauf hin, dass es notwendig ist, die Bedeutung von professioneller Jugendarbeit regelmäßig bei Entscheidungsträger:innen ins Bewusstsein zu rufen und Forderungen auch politisch zu verankern: „In ureigenem Interesse beinhaltet eine engagierte Jugendarbeit mit (aus welchen Gründen auch immer) ausgegrenzten Jugendlichen stets auch politische Arbeit. Lobby Arbeit.“

Das vorliegende Buch gibt es nun in einer überarbeiteten und erweiterten Neuauflage, die Aussagen sind aktuell und zeitlos. Es ist ein gutes Einstiegswerk, andere seiner Bücher sind widmen sich bestimmten Szenen oder Subkulturen.

Farin ist der Meinung, dass der Fokus in der Arbeit mit devianten Jugendlichen zu oft auf das Negative gelenkt wird und betont: „Die effektivste Jugendarbeit gegen rechtsradikale und rassistische Orientierungen und Verhaltensweisen ist die aktive Förderung und Stabilisierung attraktiver, selbstbewusster, bunter Gegenkulturen.“