Rezension: Melisa Erkurt – Generation haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben.

Das im Sommer 2020 veröffentlichte Buch der Wiener Journalistin Melisa Erkurt ist zurzeit heiß diskutiert im Bereich der Schulpädagogik. Doch es ist gesamtgesellschaftlich relevant, da es wichtige Themen aufgreift, bei denen es dringend zu einer Veränderung kommen sollte. Sie selbst hat ein Jahr lang in den Lehrerberuf reingeschnuppert und auch Schulprojekte an einer Wiener „Brennpunktschule“ durchgeführt. Danach hat sie für sich entschieden, dass sie als Journalistin mehr bewirken kann.

Erkurt bricht eine Lanze für Migrationskids und plädiert dafür, mehr auf die Lebenswelt der Schülerinnen einzugehen. Die Herausforderung besteht darin, Migrantenkids als Individuen und nicht als Kollektiv zu behandeln. Sie beschreibt Familiensysteme und Lernzustände, in die viele bürgerliche und vor allem EntscheidungsträgerInnen offensichtlich nur wenig Einblick haben. Ein Viertel der ÖsterreicherInnen hat Migrationshintergrund, in Wien sogar jeder zweite. Es ist dies kein Randgruppenthema mehr. BildungsverliererInnen sind zwangsläufig Kinder aus niederen sozialen Schichten, Bildung wird weitervererbt. Politik hat wenig Ahnung was Schule tatsächlich braucht. Schule funktioniert, wie sich bürgerlich weiße Erwachsene das vorstellen. Das geht völlig an den SchülerInnen vorbei.

Die Autorin zeigt die Vorteile auf, die es haben kann, wenn man zweisprachig aufwächst. Bei entsprechender Förderung sind dies soziale Kompetenzen, die sich jedoch meistens aufgrund der Umstände zu wenig entfalten können. Sie beschreibt das Doppelleben von Jungmachos, die zuhause oft kleingehalten werden und „draußen“ als Ausgleich entweder Ärger machen oder in Schulklassen den Klassenclown geben. Dabei hätten sie viel Potential: durch dieses Doppelleben, ihre Doppelsprachigkeit, ihre Doppelidentität können sie verknüpfter denken, sind oft viel selbstständiger als ihre Altersgenossinnen.

Im Buch wird ausführlich beschrieben, wie insbesondere muslimische Burschen sich aus der Not heraus krampfhaft an ihre Religion klammern, die ihnen Halt und Struktur bietet. Diese Jungs haben in Wirklichkeit keine Ahnung, was den Islam ausmacht und von dem was sie sagen. Die Mädchen ziehen an den Burschen vorbei. Es sind Jugendliche, die hin- und hergerissen sind zwischen den Werten des konservativen Elternhauses, ihrer sexuellen Neugier und westlichen Einstellungen und Werten. Den Burschen bleibt nur mehr Provokation, sie kontern mit veralteten Rollenbildern und Demokratiefeindlichkeit. Sie haben erkannt, dass sich die Leute vor dem Islam fürchten, das gibt ihnen Macht.

Es ist höchste Zeit, dass Schule in einem Einwanderungsland wie Österreich lernt, wie man mit Kindern, die eine andere Herkunft haben, gerecht umgeht. Schule gibt diesen Kindern kein Werkzeug mit, um sich davon zu lösen, sie verstärkt die Unterschiede vielmehr.

Das Buch von Erkurt ist ein Plädoyer für die Ganztagsschule, sie fordert eine vermehrte Einbindung von weiteren Fachkräften in Schulen. SozialpädagogInnen, Schulsozialarbeit, PsychologInnen, SchulassistentInnen.… sollen LehrerInnen bei ihrer täglichen Arbeit unterstützen. Im Vorzeigeland Schweden etwa besteht ein Drittel des Lehrpersonals nicht aus LehrerInnen.

An diesem Buch gäbe es viel zu kritisieren. Man könnte es als Selbsttherapie einer Unterdrückten bezeichnen. Es enthält viele inhaltliche Wiederholungen, vieles ist redundant. Kritisch zu hinterfragen ist ihre Rolle als Lehrerin, in dem Jahr, in dem sie unterrichtet hat. Dabei hat sie offensichtlich zuwenig professionelle Distanz gehabt und ein Helfersyndrom gezeigt. Sie schreibt selbst, sie fühlte sich ihren Schülern näher als ihren KollegInnen. Ein Konflikt, der auf Dauer wohl zu einem Problem geworden wäre. Daher war es eine gute Entscheidung, dass sie zum Journalismus gewechselt hat. Weiters könnte man bekriteln, dass nicht nur Migrationskids diese Defizite und Probleme haben. Auch viele andere Kinder haben mit Benachteiligung und Diskriminierungserfahrungen zu kämpfen.

Allerdings sollte man dieses Buch als das anerkennen, was es ist: eine notwendige deutliche Abrechnung mit einem völlig überholten Schulsystem, dass sich zuwenig an der Lebenswelt der SchülerInnen orientiert und bei dem Migrationskids fast zwangsläufig zu Bildungsverlierern werden.

Erkurt selbst sagt bei Veranstaltungen, dass dieses Buch kein großer Wurf ist. Diese Aussagen und Erkenntnisse sind nicht neu, werden so seit vielen Jahren von ExpertInnen getätigt. Aber es ist wichtig, dass jemand aus dieser Community selbst diese deutlichen Worte schreibt. Und nicht schon wieder jemand von außen über diese mehrfach benachteiligten Jugendlichen, über die oft vorschnell geurteilt wird.

Dieses Buch ist ein wichtiger Denkanstoß für PädagogInnen, Erkurt ist offen und ehrlich mit sich selbst und ihrer Geschichte, daher kann es auch betroffenen Jugendlichen Mut geben. Sie hat damit große Missstände aufgezeigt und gleichzeitig Empfehlungen beschrieben, die dringend auf eine Umsetzung warten. Man kann der sympathischen Autorin nur weiterhin viel Kraft und Ausdauer bei ihrem Engagement wünschen.

Klare Kaufempfehlung!